Sollte Kinderschutz vom Geschlecht abhängen?

Beschneidung von Jungen ist eine ganz offensichtliche Form von Sexismus.

Wenn sich am Geschlecht festmacht, ob jemand als schützen­swert gilt oder nicht, so ist dies eine offensichtliche Form von Diskriminierung anhand des Geschlechts, und damit ein Sexismus.  

Viele Personen prangern zurecht auch beiläufige Formen von Sexismus gegenüber Frauen und Mädchen an. Über den deutlichen Sexismus gegenüber Jungen beim Thema Beschneidung wird aber oftmals schweigend hinweg gegangen. 

Auch verurteilen viele gesellschafts­­politische Organisationen in Deutschland einen Mangel an Gleichberechtigung und Kinderschutz in weit entfernten Ländern. Doch wenn es um die selben Maßstäbe vor der eigenen Haustür geht, gehen die gleichen Organisationen dann zu einer offensiven Bagatellisierung der Beschneidung von Jungen über.

Eine solche Bagatellisierung ist aber nicht nur medizinisch unzutreffend. Sie widerspricht auch dem Prinzip der Gleichstellung, das sich diese Organisationen selber auf die Fahnen geschrieben haben. Dieser Mangel an Haltung zeigt deutlich, wie sehr Jungen­­­beschneidung im deutschen Kinderschutz ein Tabu­thema ist. 

Wir von ARGUS-Kinderschutz  fordern Schutz vor unnötigen Beschneidungen für alle Kinder in Deutschland – unabhängig von deren kulturellem Hintergrund und Geschlecht.

Icon für Gleichberechtigung: Männliches und weibliches Kind in Waagschalen

Soll man die "Beschneidung" von Jungen und Mädchen miteinander vergleichen?

Oftmals wird versucht, die doppelten Maßstäbe im Kinderschutz zu rechtfertigen, indem man die Beschneidung von Mädchen und Jungen hinsichtlich des Ausmaßes der Gewalt oder der Tiefe des möglichen Schadens miteinander vergleicht. Wir von ARGUS-Kinderschutz halten einen solchen Bewertungsversuch aus mehreren Gründen für falsch. 

Erstens hat kein Kind auf dieser Welt einen Vorteil davon, wenn wir sein Leid gegen das Leid eines anderen Kindes aufwiegen wollen. Denn ein solcher Vergleich nützt niemals den Kindern, sondern immer nur uns Erwachsenen, die damit nach einer Rechtfertigung für ihre eigenen moralischen Doppelstandards suchen. 

Zweitens ist es eine Frage von gesellschaftlichen Grundwerten, ob wir unsere Kinder im Sinne der Gleichberechtigung aufwachsen lassen wollen oder nicht. Denn wenn dem so ist, dann können wir nicht plötzlich eine Ausnahme beim Genital von Jungen machen, und dies mit dem Ausmass des möglichen Leides begründen. 

Drittens gibt es auch häufige Formen der Beschneidung von Mädchen (WHO Typ Ia und IV), die laut der Vereinigung der Amerikanischen Kinderärzte (AAP) "weit weniger massiv sind, als das, was bei dem Eingriff an Jungen passiert." Auf diesem Vergleich basierte die AAP dann auch kurzzeitig eine offizielle Leitlinie, in der eine "kleine" Beschneidung von Mädchen gebilligt wurde. Der Vergleich der Beschneidung zwischen den Geschlechtern kann also auch zu Ungunsten der Mädchen ausfallen. Letztlich sieht man daran, dass bei so einem Vergleichsversuch alle Seiten nur verlieren können.

Kinderschutz sollte insgesamt weder versuchen, das Leid von Kindern zu quantifizieren, noch Kinder anhand ihres Geschlechts in "schützenswert" und "weniger schützenswert" aufzuteilen. Alle Kinder verdienen Schutz durch uns Erwachsene.

Quelle: Policy Statement - Ritual Genital Cutting of Female Minors, AAP 2010
Foto von Frau Soraya Mire

Was sagen Frauen, die selber von Genital­verstümmelung betroffen sind, zur "Beschneidung" von Jungen?

Soraya Mire ist wohl eine der bekanntesten Aktivistinnen gegen "Mädchen­beschneidung" in den USA (englisch: Female Genital Mutilation/ Cutting, FGM/C).  Sie ist selber von der radikalsten Form der weiblichen Genitalverstümmelung (WHO Typ III, Infibulation) betroffen. Zur Frage der Jungenbeschneidung sagt Soraya Mire: 

»Genitalbeschneidung ist Kindes­misshandlung, bei Mädchen wie bei Jungen, und beides muss aufhören.«

»Es ist einfacher, mit dem Finger auf Afrika zu zeigen, und was sie den Mädchen dort Barbarisches antun, als das zu sehen, was jeden Tag vor unserer eigenen Haustür mit den Jungen passiert. Aber dazu sagt niemand auch nur ein einziges Wort.«

»Ich sehe mich jedenfalls als Aktivistin für die Rechte von allen Kindern. Ich kann mir nicht nur eine Seite aussuchen, und zur anderen Seite sagen: ich höre deinen Schrei nicht.«

Bild- und Textquelle: Dokumentarfilm "American Circumcision", Bonusmaterial, © 2018 B. Marotta.