Die hippokratische Tradition der Medizin beruft sich auf drei bekannte Grundsätze, die in Latein formuliert wurden: "Primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare". Auf Deutsch:
Eine Beschneidung, die ohne leitlinien-konforme Indikation durchgeführt wird, verstößt gegen alle drei Grundsätze. Dabei ist es ganz gleich, ob die fehlende Indikation auf mangelnder Leitlinientreue der Ärzte beruht, oder ob diese Ärzte damit nur den Aufforderungen von Eltern nachkommen. Denn die hippokratischen Grundsätze werden in beiden Fällen missachtet:
Unabhängig von diesen Grundsätzen ist jeder medizinischer Eingriff ethisch ohnehin nur dann zulässig, wenn ein Patient diesem zustimmt. Natürlich kann es Situationen geben, wo die Einwilligung zur Zustimmung nicht abgewartet werden kann. In diesen Fällen ist ärztliches Handeln aber nur dann gerechtfertigt, wenn ein akutes Risiko für eine lebensbedrohliche Krankheit vorliegen würde.
Dies ist bei einer Beschneidung ohne medizinische Indikation nicht der Fall. Wird dann trotzdem an einem Kind eine Operation durchgeführt, so kann dies medizinisch nur mit einem einzigen Begriff bezeichnet werden: es handelt sich um einen kosmetischen Zwangseingriff.
Teile der Ärzteschaft argumentieren manchmal, dass sie Beschneidungen auf Wunsch von Eltern vornehmen, weil diese den Eingriff sonst vielleicht von weniger qualifizierten Personen durchführen lassen würden. Dies wird manchmal im Sinne einer vermeintlichen Schadensbegrenzung mit dem Spruch "Besser OP-Tisch als Küchentisch!" zusammen gefasst.
Was auf den ersten Blick moralisch erscheinen mag, ist es bei genauerem Hinsehen nicht. Denn es widerspricht der Ethik der europäischen Medizin, einem Patienten ein gesundes Körperteil zu entfernen, weil dessen Eltern sich dies wünschen. Es ist hingegen die Aufgabe der Ärzteschaft, sich medizinisch auf die Seite ihrer kleinen Patienten zu stellen, statt sich zum Erfüllungsgehilfen einer unmedizinischen Praxis zu machen.
Dabei verfängt auch das Argument einer angeblichen Schadensbegrenzung nicht. Denn negative Spätfolgen können unabhängig davon eintreten, ob der Eingriff mal unter medizinischen Bedingungen durchgeführt wurde oder nicht. Weiterhin können die akuten Risiken des Eingriffs auch dann nicht eliminiert werden, wenn der Eingriff von der Ärzteschaft durchgeführt wird. Wie sich z.B. an der Widmung dieser Website oder in der Presseschau zeigt, realisieren sich die Risiken auch unter medizinischen Bedingungen immer wieder. Die ethische Alternative zu einem medizinisch unnötigen und möglicherweise schädigenden Eingriff ist daher nicht, ihn von den Rahmenbedingungen her zu optimieren, sondern ihn zu unterlassen.
Es gibt im Kinderschutz keine Haltung, nach der man das Ausüben von Gewalt in professionelle Hände geben sollte, damit die Gewalt dann angeblich schadensärmer ausgeführt werden kann. Die Ethik der europäischen Medizin verlangt, dass die Ärzteschaft im Interesse ihrer Patienten handelt, und nicht die kosmetischen Wünsche von deren Eltern umsetzt. Aus diesen Gründen ist es auch geächtet, dass Mädchenbeschneidung durch medizinisches Personal ausgeführt wird (sogenannte "Medikalisierung"). Solange sich die Ärzteschaft zu Erfüllungsgehilfen macht, wird es immer Kinderbeschneidung geben – ganz gleich ob bei Jungen oder bei Mädchen.